"Chatter" nennen sich Nachbarn im virtuellen Internet-Dorf

Plausch am Computer

Bistro "Falken's Maze" eine reale Bodenstation - Jeden Donnerstag

VON SABINE DIETZ

FÜRTH - "Chatten ist eine Sucht", sagt Reinhold Pretscher. "Und eine Lebenseinstellung, weil eine Dauerparty", ergänzt das gute Dutzend Computerfreaks, das sich auf und um das durchgesessene Plüsch-Sofa im Internet-Café "Falken's Maze" gruppiert hat. "Chatten" leitet sich ab vom englischen "Chat" für Plauderei und Schwatz.

Weltweit bis zu 70 000 Anhänger findet der Small talk via Modem und Telefonleitung im Internet Relay Chat (IRC) täglich. Einige "Chatter" aus dem Großraum treffen sich Donnerstagabend im kargen Interieur von Fürths Internet-Kneipe "Falken's Maze" in der Königstraße.

Die öffentlichen Gesprächsräume des IRC-Chaos sind zu Channels gebündelt. Der "Channel Erlangen" ist einer von mehreren Tausenden. Reinhold Pretscher, der Wirt des multimedialen Bistros in Fürth, zählt zu der Handvoll Computer-Freaks, die dafür sorgen, daß der Erlanger Kanal 24 Stunden am Tag geöffnet ist. Selbst wenn Pretscher schläft, läuft neben dem Bett der Rechner. Trifft eine Nachricht ein, summt ihm sein PC die Titelmelodie der Pippi-Langstrumpf-Serie ins Ohr.

Unhold mischt mit

Die Geschichte des Channel Erlangen reicht bis in die Kindertage dieses Kommunikationsmediums zurück. 1988 hat der Finne Jarkko Oikarinen das System, das seinen Nutzern den direkten Dialog im Austausch von Sätzen auf dem Bildschirm ermöglicht, entwickelt. Seitdem tummeln sich auch "Unhold", "Dow Jones" oder "Hugibaz" in dem IRC-Dienst. Solche "Nicknames", Wortspiele oder Eigenschaftsbeschreibungen mit tieferem Sinn, verschleiern die wahre Identität. Hinter "Unhold" zum Beispiel verbirgt sich Reinhold Pretscher. "Reinhold", meinen seine Freunde, passe nicht zu ihm, der Nickname entspreche seinem Wesen viel eher.

Seitenweise surren die Nachrichten über die Bildschirme im "Falken's Maze". Aktionen werden durch einen Befehl, der sie mit Sternchen kennzeichnet, markiert und versuchen eine emotionale Basis in das nüchterne Medium einzuspielen. Um der gesprochenen Sprache nicht hinterherzuhinken, zählt Schnelligkeit. "Smileys" sind ein besonders findiger Einsatz für nichtsprachliche Gesprächskomponenten wie mimische Reaktionen, die der fehlende Augenkontakt ausklammert. Die Tasten "Doppelpunkt", "Bindestrich" und "Klammer zu" stilisieren ein um 90 Grad gedrehtes Gesicht: :-)

Eigene Sprache

Das IRC hat seine eigene Sprache, die die Linguisten längst als Forschungsfeld entdeckt haben. Hier wird geknuddelt, gegruselt und gegrinst. Englische Verben beugen sich deutschen Grammatikregeln, es wird ge-irct, ge-mailt und ge-idlet. Duzen ist Usus. Umgangssprache, Dialektausdrücke oder Kürzel, die nur Insider zu entziffern wissen, formen eine Chiffre zwischen Comic-Strip und Sprachökonomie.

Computerspiele sind out, megaout. "Das ist fürchterlich langweilig, das ist nicht interaktiv", erklärt Pretscher. "Einmal im IRC drin, lernt man immer mehr Leute kennen, und dann unterhält man sich eben, das ist wie ein Zwang." "Miami" alias Oliver Scherer aus Langenzenn interpretiert das Medium als einen Spiegel der Welt auf digitaler Ebene: "Kinderpornos gibt's auch im real life, man kommt halt nicht so leicht ran." Als er ans Telefon gerufen wird, spricht er nicht einmal seinen Satz zuende. Ein kurz angebundenes "Entschuldigung" entschlüpft ihm noch, schon ist er weg.

Distanzen? Kein Problem, die Daten-Fern-Übertragung funktioniert weltweit. Selbst beim traditionellen Ostereiersuchen in Regensburg sichern Lap-Top und Handy die technischen Voraussetzungen für ständige Verfügbarkeit. "Das globale Dorf lebt", sagt Pretscher.

"Dow Jones", im bürgerlichen Leben Joachim Astel aus Erlangen, fungiert als unumstrittene Kapazität, geht es um Bewältigungsstrategien von Fehlern im System. Selbst im Urlaub hat er von Tokio aus die Folgen von "Unholds" Eskapaden in der Software ausgebügelt. 18 000 liegengebliebene elektronische Nachrichten haben in "Dow Jones" Mailbox gewartet, als er nach Hause gekommen ist.

Unkommunikativ, stumm und einsam hinterm PC verstaubend, solche Klischees wiegeln die Gäste der Kneipe empört ab. "Die Leute im Netz sind unglaublich kommunikativ", sagt Michael Schramm ("Panther"), und Reinhold Pretscher ergänzt: "Es dauert ungefähr zehn Minuten, bis eine Information alle die erreicht, die sie nicht erreichen soll." Nur in ein Schema wollen sich die Chatter nicht pressen lassen. Toleranz zeichne die Internet-Gemeinde aus, darin sind sich alle einig. Eine gewisse Intelligenz allerdings müsse der Newcomer schon mitbringen, schließlich gilt es, die technische Hürde zu überwinden.

"Wir sind alles andere als total durchgeknallt", sagt "Panther", der sich als Diplom-Ingenieur in Nürnberg verdingt. Wie er haben viele der leidenschaftlichen IRC-Fans Berufe in der Computerbranche. "Von irgendwas mußt du die Telefonrechnung ja schließlich bezahlen", meint Schramm. Die von "Miami" bewegt sich zwischen 200 und 1000 Mark im Monat. Da kommt es weit günstiger, eine Monatskarte für 35 Mark im "Falken's Maze" zu erstehen.

Die Kluft zwischen "real life" und virtueller Welt erscheint für Außenseiter unüberwindlich. Häufig genug kommt es vor, daß die Jungs Insider-Witze reißen, über die Otto Normalbürger überhaupt nicht lachen kann. Daß einer der Jugendlichen "Engel" monatelang für einen Mann gehalten hat, ist einer der jüngsten Vorfälle, die in der familiären Runde für Gelächter sorgen.

Frauen sind in der Minderzahl. Anzüglichkeiten bis zur direkten Anmache zählen zu den harmlosen Formen des Anbaggerns im Internet. Aber "Engel" weiß sich zu wehren. Der Befehl "ignore" kickt lästige Lüstlinge aus ihrem Programm. Deren Botschaften erscheinen dann gar nicht mehr auf ihrem Bildschirm. Vor dem Flirt-Kanal werden weibliche Neulinge fairerweise von den "Maze-Burgern" gewarnt. 60 Prozent aller Männer im Netz, schätzt "Engel", sind im "real life" auf mehr aus, auf "Cyber Sex" oder wie auch immer". Aber niemand muß verraten, wer hinter Nicknames wie "Engel" steckt, und "Engel" hat gute Gründe, das nicht zu tun.

Der Knigge des Netzwerkes heißt Netiquette in Anlehnung an Etikette, und als oberste Benimmregel gilt: "Ich darf alles, solange ich niemanden unnötig ärgere" (Pretscher). Wer sich allzu ungebührlich benimmt, wird "gekickt", bei Nichtbesserung "gebanned", soll heißen auf Nimmerwiedersehen aus dem Kanal verstoßen. Das Internet reguliert sich selbst.

"Einer, der im Netz nur Unfrieden stiftet, fliegt raus", urteilt "Miami". Trotzdem bleibt der IRC nach "Panthers" Ansicht eine Spielwiese: "Du kannst Dir Dinge erlauben, die du dir real nicht leisten kannst." Aber wiederholt sich der Kontakt zu einem anderen Chatter, keimt die Neugierde, deshalb ist "Panther" doch mal von Nürnberg nach Fürth zum Stammtisch gefahren. "Man darf eben nicht vergessen zu leben", sagt "Engel".